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„Für mich ist die Geschichte vom verlorenen Sohn eine schwierige Geschichte“, erklärt José. „Der Sohn kann zu seinem Vater zurückkehren und wird mit offenen Armen empfangen. Ich habe genau das Gegenteil erfahren: Mein Vater hat mich verstoßen, ich kann nicht zu ihm zurückkommen.“

Wir sitzen im Kreis und feiern gemeinsam Gottesdienst, unser Thema – der verlorene Sohn. Alle Anwesenden können erzählen, was ihnen an der Geschichte wichtig ist, das ist unsere Form der Predigt. „Misa inclusiva“ nennt die Lutherische Kirche in Costa Rica diesen Gottesdienst. „Misa“ heißt auf Spanisch Messe und „inclusiva“ bedeutet, dass alle dazu eingeladen sind und niemand ausgeschlossen wird: Lesben, Schwule, Heterosexuelle, Transsexuelle, Männer, Frauen.

In den meisten costaricanischen Kirchen sind Homosexuelle und Transsexuelle nicht erwünscht. Sie können nicht mit ihren Partnern in den Gottesdienst gehen oder müssen ihre Geschlechtsidentität verleugnen. „Falsch“ sei ihre Art zu leben, Sünde, Teufelswerk. Die Kirchen sind ein Spiegel der Gesellschaft, der Familien, des alltäglichen Lebens. Oft leiden diese Menschen seelische und auch körperliche Gewalt.

In Deutschland hat sich spätestens mit der Einführung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft 2001 ein Bewusstseinswandel in der Gesellschaft vollzogen, homosexuelle Lebensformen sind weitgehend anerkannt. Doch auch bei uns ist es innerhalb der Kirchen ein brisantes Thema: die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, homosexuelle Pfarrerinnen und Pfarrer – ganz unterschiedlich ist der Umgang in den verschiedenen Landeskirchen und immer wieder hört man auch in Deutschland ähnliche Ansichten wie in Costa Rica: auch bei uns ist von „Sünde“ die Rede.

In Costa Rica ist die lutherische Kirche eine der wenigen Anlaufstellen für Homosexuelle. Hier bekommen sie Beratung, psychologische und seelsorgerische Unterstützung und hier wird Aufklärungsarbeit geleistet. Die Menschen begegnen ihnen mit Respekt und sie können an allen Gottesdiensten teilnehmen, nicht nur an der „Misa inclusiva“. Dort treffen sie aber Gleichgesinnte und gehören zur „Mehrheit“, nicht zur „Minderheit“.

Für José ist der Glaube ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Aber es gab Zeiten, in denen er aus Angst nicht in die Kirche gehen konnte. Das ist vorbei. Regelmäßig kommt er zur „Misa inclusiva“ – mit seinem Lebensgefährten. Hier erlebt er einen Gott, der ihn annimmt und liebt, so wie er ist, für den er nicht falsch, sondern genau richtig ist. Und wer weiß, vielleicht bekommt auch die Geschichte vom verlorenen Sohn eines Tages eine neue Bedeutung für ihn.

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